„Ver-rückte Zeiten“

„Ver-rückte Zeiten“

Die Schulschließung aufgrund der Corona-Krise betrifft alle Menschen der Marienschul-Gemeinschaft – jeden auf unterschiedliche Weise. Stellvertretend für viele andere haben wir in den Osterferien einige von ihnen nach ihren Erfahrungen gefragt.

von Maria Joachimsmeier

Wenn Michael Mombaur in diesen Tagen durch die Marienschule läuft, dann hallen seine Schritte durch das Gebäude. Kein Stimmengewirr, kein Gedrängel in den langen Fluren, keine herumstehenden Schultaschen oder vergessene Turnbeutel, über die man stolpern könnte. Bis auf wenige Kollegen aus der Schulleitung, bis auf die Sekretärinnen und Hausmeister, die hier einsam die Stellung halten, ist die Schule leer. Zu leer.

„Ich hatte mir schon ein ruhiges erstes Jahr gewünscht, um richtig ankommen zu können“, sagt Mombaur, der erst seit gut sieben Monaten Marienschulleiter ist. „Aber ruhig ist es jetzt wirklich nicht – auch wenn kaum jemand in der Schule ist. Das hatte ich mir wirklich anders vorgestellt!“

Genau wie Luis Waschkau. Der Zehnjährige ist im Sommer 2019 in die fünfte Klasse gekommen, hat sich in den ersten Wochen und Monaten nach und nach eingelebt. In das zweite Halbjahr ist er dann mit einem richtig guten Gefühl gestartet, doch dann kam alles anders: Kaum angekommen an der Marienschule, sitzt er nun wegen der Corona-Krise zu Hause. „Das finde ich gar nicht schön, denn eigentlich gehe ich sehr gerne in die Schule“, sagt er. Er vermisse seine Freunde und mache sich auch Gedanken über den ausgefallenen Unterricht: „Wir müssten ja bis zu den Sommerferien den Stoff durchnehmen, den wir für die sechste Klasse brauchen“, sagt Luis. Um möglichst gut am Ball zu bleiben, versucht er, auch zu Hause einen Rhythmus beizubehalten: „Vormittags und nachmittags habe ich feste Zeiten zum Lernen.“, Hauptfach-Lehrer*innen schickten ihm Aufgaben per Mail oder SMS, die er dann bearbeite und zur Kontrolle zurückschicke.

Der Unterricht hat sich, so gut es geht, aus dem Klassenraum ins Kinderzimmer verlagert.

Dass es überhaupt geht, daran hat Lehrer Benjamin Schnicke entscheidenden Anteil. Er koordiniert an der Marienschule die Unterrichtsentwicklung mit Blick auf die digitale Welt und leitet auch die Mediengruppe des Kollegiums. Nach der Schulschließung war er deshalb natürlich besonders gefordert. „An unserer Schule arbeiten wir schon seit langem mit der Lernplattform moodle, dort kann man Unterrichtsmaterial hochladen und mit den Schüler*innen teilen“, berichtet Schnicke. „Zwar haben alle Marienschüler*innen ab der sechsten Klasse einen Zugang – viele Schüler*innen hatten aber ihre Passwörter nicht mehr bereit. In der ersten Woche nach der Schulschließung waren wir vom Medienteam also erstmal damit beschäftigt, sehr viele Passwörter zurückzusetzen.“ Dann sei die Lernplattform jedoch sehr rege genutzt worden: Während moodle am 4. März zum Beispiel noch 3950 Mal angeklickt worden sei, habe es am 26. März schon 27 500 Zugriffe auf die Plattform gegeben. Und da seien die Aufgaben, die Lehrpersonen per Mail versandt hätten oder die direkt an die „Tabletklasse“ 5a gegangen seien, noch gar nicht eingerechnet.

Daneben habe er auch nach weiteren digitalen Unterrichtsmöglichkeiten gesucht, zum Beispiel per Videokonferenz: „Momentan sind wir dabei, eine ausführliche Anleitung für die Lehrer*innen und einen Elternbrief zu verfassen. Denn bei einer Videokonferenz müssen grundlegende Verhaltensregeln festgelegt und beachtet werden. Es ist wichtig, dass dies von Eltern begleitetet wird – wie dies ja auch beim privaten Nutzen von WhatsApp und anderen Social Media Apps der Fall sein sollte.“

Aber auch, wenn das alles berücksichtigt sei und die Technik mitspiele – so einfach, wie es sich anhöre, sei Fernunterricht nicht: „Ein Kollege aus dem Medienteam hat in seinem Leistungskurs schon einmal testweise eine Video-Unterrichtsstunde durchgeführt“, berichtet Schnicke. Das Ergebnis: „Mit 25 Abiturient*innen, deren Bilder dann briefmarkengroß auf dem Bildschirm zu sehen sind, wirklich zu arbeiten, ist utopisch. Wie soll das dann erst mit jüngeren Lerngruppen funktionieren?“ Schnickes Fazit: „Ich bin ja wirklich ein Fan des Digitalen, aber nach unseren Erfahrungen kann ich sagen: Für einen kurzen Zeitraum gibt es bei guter Ausstattung viele gute Lehr- und Lernmöglichkeiten per Internet. Einen rein digitalen Unterricht kann es aber wohl nie geben – dafür ist der persönliche Kontakt von Lehrperson und Lerngruppe einfach zu wichtig!“

Das kann auch Laura Bendix bestätigen. Die Abiturientin hat inzwischen auch schon die ein oder andere Videokonferenz hinter sich. „Mit dem ganzen Kurs ist das wirklich schwierig“, sagt sie. Aber in ihrem mündlichen Fach Biologie seien sie nur drei Prüflinge. „Die Konferenz nur zu viert mit unserem Biologielehrer Herr Ries fand ich sehr gut. Sonst wäre ich echt verloren gewesen!“ Sie habe noch einige Fragen gehabt – auch zum Prozedere, denn zum Üben der Prüfungssituation sei es wegen der Schulschließung nicht mehr gekommen.

Und auch andere verpasste Gelegenheiten bedauert die Abiturientin sehr: „All die Jahre haben wir die großen Schüler bei der Mottowoche vor den Osterferien beobachtet und gedacht: Irgendwann stehen wir da auch. Das werden wir jetzt nie erleben!“ Und da die Schulschließung so kurzfristig an einem Freitagnachmittag beschlossen wurde, hätten die Abiturient*innen an ihrem allerletzten Schultag noch nicht einmal gewusst, dass er das sei. „Nach zwölf Jahren Schule. Als uns das klar wurde, sind bei einigen wirklich die Tränen geflossen!“, erzählt Laura Bendix.

Am schlimmsten finde sie aber momentan die Unsicherheit: „Erst wurde die Schule geschlossen, dann die Abiturprüfungen nach hinten verschoben. Aber bleibt es dabei?“ Und auch noch mehr Sorgen mache sie sich: „Meine Mutter muss demnächst wahrscheinlich in Kurzarbeit, meinen Nebenjob in einer Bäckerei kann ich auch nicht weitermachen. Ich weiß von Mitschüler*innen, deren Familien jetzt wirklich existenzielle Sorgen haben. Wie sollen die sich denn aufs Lernen konzentrieren? Und andere haben keinen Laptop und Drucker zur Verfügung oder die kleinen Geschwister wuseln ganze Zeit zu Hause um sie herum.“, sagt sie. Wenigstens habe sie das Gefühl, dass die Schule sie nicht alleine lässt: „Die Lehrer kümmern sich alle echt gut und man merkt, dass sie auch unglücklich mit der Situation sind und uns so gut wie möglich helfen wollen!“

Eine von Lauras Lehrerinnen ist Anja Binder. Sie leitet den Deutsch-Leistungskurs und ist optimistisch, dass ihre Schüler*innen trotz allem gut durch die Prüfungen kommen. „Wir hatten das Glück, dass wir mit den für das Zentralabitur notwendigen Inhalten schon länger durch waren und uns in der Wiederholungsphase befanden“, berichtet sie. „Und glücklicherweise war auch die Vorabiturklausur zum Zeitpunkt der Schulschließung schon geschrieben.“ Die gezwungenermaßen unterrichtsfreie Zeit habe sie dazu genutzt, die Klausur bei der Korrektur besonders ausführlich mit Anmerkungen zu versehen. Somit hätten die Schüler*innen eine individuellere Rückmeldung mit Blick auf das Abitur erhalten, als es mit einem Besprechen der Klausur im Unterricht möglich gewesen wäre. „Ich hoffe, dass ihnen das beim Lernen hilft“, sagt die Lehrerin. Auch sonst versuche sie, ihre Schützlinge zu beruhigen: „Ihr seid gut vorbereitet!“

Mehr Gedanken macht sich Anja Binder um die angehenden Lehrer*innen an der Marienschule. Als eine von drei Ausbildungsbeauftragten betreut sie die Referendar*innen: „Einer hatte seine große Abschlussprüfung gerade noch drei Tage vor dem Schulschluss, bei einem anderen lag der Termin jedoch in der Zeit der Schulschließung.“ Dem gehe es jetzt nicht so gut, weil er nicht wisse, wie es nun weiter geht. „Die Referendar*innen, die sich noch mitten in der Ausbildung befinden, kommen meines Wissens nach ganz gut mit der Situation zurecht“, sagt Anja Binder. „Aber im Moment kann uns niemand sagen, wie die weitere Ausbildung verlaufen wird, ob sie überhaupt in der vorgegebenen Zeit beendet werden kann.“

Wie es weiter geht, würde auch Michael Luke gerne wissen. Er leitet gemeinsam mit Jan Philipp Röser die Bigbands der Marienschule. Musikalisch kam die Schulschließung zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt: „Genau an dem Schließungswochenende war unser großer jährlicher Bigband-Workshop geplant, kurz darauf das Konzert aller Bands. Darauf haben unsere Schüler*innen lange hingearbeitet und sich schon sehr gefreut,“ berichtet er. Doch dann kam alles anders. Das sei natürlich besonders für die Schüler*innen eine Enttäuschung gewesen. „Allerdings muss man auch sagen, dass für uns ein solcher Auftritt zwar mit viel Motivation verbunden ist, zum Glück aber nicht mit finanziellen Sorgen. Wir kennen viele freiberufliche Musiker*innen, denen es jetzt sehr schlecht geht, die wirklich um ihre Existenz bangen müssen. Wir an der Marienschule können zum Glück sagen: Ein ausgefallenes Konzert ist zwar schade, aber wir haben die Perspektive, dass es später nachgeholt werden kann.“

Um trotz Kontaktverbots nicht ganz aus dem Tritt zu kommen, haben die Bigband-Leiter einiges ausprobiert: „Wir haben mit Schüler*innen Termine vereinbart für Einzelunterricht per Videokonferenz. Das hat gut funktioniert, wenn auch ein Zusammenspielen durch die Zeitverzögerung nicht möglich ist. Mein Kollege Jan Philipp Röser hat außerdem Playalongs eingespielt, Musikstücke, mit deren Hilfe die Schüler*innen mit Bandbegleitung üben können“, berichtet Luke.

Insgesamt habe er in den letzten Wochen viele positive Erfahrungen gemacht: Zum Beispiel habe er in seiner Funktion als Mitglied der erweiterten Schulleitung auch die Notbetreuung für Schüler*innen mit Eltern in systemrelevanten Berufen organisiert: „Selbst als die Vorgabe kam, auch am Wochenende und in den Osterferien eine Notbetreuung zu organisieren, waren innerhalb von zwölf Stunden alle Termine durch freiwillige Kollegen besetzt. Das ist die MSE!“

Was seine neue Schule ausmacht, das ist auch Schulleiter Michael Mombaur in den turbulenten Wochen bis zu den Osterferien immer klarer geworden: „Es sind wirklich, in jede Hinsicht, ver-rückte Zeiten. Aber ich habe das Gefühl, dass sich vor dem Hintergrund der eigenen Sorgen, Ängste und Nöte alle bemüht haben, die Nerven zu bewahren, möglichst viel und möglichst gut zu lehren und zu lernen.“ Dabei hätten sicher auch mal Probleme gelöst und Schwierigkeiten überwunden werden müssen. „Aber genau dieser Prozess des aufeinander Einspielens erzeugt auch Nähe und schafft Vertrauen.“ Dieses Zusammenstehen in schwerer Zeit werde, so hofft der Schulleiter, die Schulgemeinschaft stärken. Und er fügt hinzu: „Und ich bin mir sicher, die Meisten von uns freuen sich dann auf unsere wieder geöffnete Marienschule.“

Nachtrag: Weniger Tage nach den hier abgebildeten Interviews wurde beschlossen, dass die Schulen unter strengen Hygieneauflagen schrittweise wieder geöffnet werden. Ab Donnerstag, 23. April zunächst freiwillig für die Abiturienten.

Wir werden die Entwicklungen der kommenden Monate weiter verfolgen und die Interviewpartner später erneut nach ihren weiteren Erfahrungen befragen.